Als designierte Familienministerin habe ich am 21.04.2022 mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) ein längeres Interview geführt. Und erklärt, was ich im neuen Amt anpacken will und warum Politik ein Sexismus-Problem hat.

Interview von Jochen Gaugele und Theresa Martus für das Redaktionsnetzwerk Deutschland (©RND)

Berlin. Lisa Paus wird die zurückgetretene Anne Spiegel als Familienministerin ersetzen. In ihrem ersten Interview – das noch nicht in ihrem Ministerinnenbüro, sondern im Hinterhaus der Parteizentrale stattfindet – sagt die Grünen-Politikerin, wie persönliche Erfahrungen ihre Politik prägen. 

Sie sind von den Grünen überraschend als Familienministerin nominiert worden. Wie herzlich sind die Glückwünsche des Bundeskanzlers ausgefallen?

Lisa Paus: Norddeutsch-herzlich (lacht). Das war ein gutes Gespräch, wir kennen uns ja auch schon ein bisschen länger.

Sie haben Olaf Scholz immer wieder hart attackiert, ihm sogar vorgeworfen, er habe als Finanzminister den Bundestag belogen. Haben Sie etwas zurückzunehmen?

Nein. Das ist kein spezielles Thema mehr zwischen uns. Wir gehen entspannt miteinander um und wollen erfolgreiche Politik für Deutschland machen.

Sie sind Finanzexpertin. Was macht Sie zu einer guten Familienministerin?

Ich bin in die Politik gegangen, weil ich unsere Gesellschaft und unser Zusammenleben gerechter machen will. Dass so viele Kinder in Deutschland in Armut aufwachsen, aber auch die Frage, wie wir unser demokratisches Miteinander gestalten wollen – das treibt mich seit Jahren um. Natürlich bringe ich auch persönliche Erfahrungen ein. Und klar: Ich kenne mich mit dem finanziellen Rahmen aus, weiß, dass es Geld braucht, um die zentralen Projekte wie die Kindergrundsicherung auf den Weg zu bringen. Jetzt bin ich froh, genau am richtigen Platz zu sein.

Inwiefern?

Das Familienministerium ist ein zentrales Gestaltungsressort für unsere Gesellschaft. Wir müssen mehr investieren in den gesellschaftlichen Zusammenhalt – das fängt mit Familie an und geht mit Demokratieförderung oder den Teilhabemöglichkeiten von Jugendlichen und älteren Menschen weiter. Diese Verantwortung haben wir als Staat. An den Chancen für Kinder, an der Situation von Familien und am Stand der Gleichstellung entscheidet sich, wie wir durch Krisen kommen. Wir sind noch in Corona-Zeiten, die vergangenen beiden Jahre haben die Familien extrem gebeutelt. Einsamkeit war für viele, gerade auch ältere Menschen, ein Thema. Das ging richtig ins Mark. Jetzt haben wir einen Krieg mitten in Europa. Mein zukünftiges Ministerium hat vor diesem Hintergrund die Aufgabe, mit dafür zu sorgen, dass die Menschen und wir als Gesellschaft gut aus dieser Krise herauskommen.

Welche Vorhaben liegen Ihnen besonders am Herzen?

An erste Stelle die Kindergrundsicherung. Sie ist ein zentrales Projekt in dieser Wahlperiode und soll das Leben aller Kinder, gerade auch der Kinder aus Familien mit wenig oder keinem Einkommen, spürbar verbessern. Zudem will ich mich besonders um die Seniorinnen und Senioren kümmern. Leider ist für viele ältere Menschen nach wie vor Einsamkeit ein großes Thema. Im Februar ist deshalb das „Kompetenznetzwerk Einsamkeit“ des Familienministeriums an den Start gegangen, dem mein besonderes Augenmerk gelten wird. Ziel ist es, diejenigen zu unterstützen und zu vernetzen, die sich einbringen und ehrenamtlich engagieren wollen. Und dann sind da noch die pflegenden Angehörigen. Für sie haben wir eine Lohnersatzleistung im Koalitionsvertrag festgeschrieben. Wer Nahestehende pflegt, dafür eine Auszeit nimmt oder die Arbeitszeit reduziert, soll entlastet werden. Diese Lohnersatzleistung muss aber noch klar im Haushalt verankert werden. In Zeiten, da die Krise schon groß genug ist, braucht es nicht auch noch Existenzängste, sondern die Klarheit und Sicherheit, dass die Pflege von Angehörigen finanziell abgesichert ist. Die Pflegezeit wird gebraucht, sie muss kommen.

Deutschland will 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr ausgeben – haben Sie Sorge, dass solche Sozialreformen auf die lange Bank geschoben werden?

Ich glaube, allen ist klar, dass das nicht passieren darf. Gerade jetzt in der Krise geht es doch darum, die Widerstandskraft der Gesellschaft zu stärken – und den sozialen Zusammenhalt neu zu beleben. Viele sind durch die steigenden Preisen für Energie und Lebensmittel stark belastet. Ohnehin haben wir in unserem Land ein großes Problem mit Kinderarmut, das sich in dieser Situation nicht weiter verschärfen darf. Umso wichtiger sind der monatliche Kinder­sofortzuschlag, der im Juli eingeführt wird, und natürlich die Kindergrundsicherung …

… die wann genau kommt?

In dieser Legislaturperiode. Mein Ziel ist es, dass wir im kommenden Jahr die Arbeit der interministeriellen Arbeitsgruppe beenden und in den Gesetzgebungsprozess einsteigen. Die Kindergrundsicherung ist ein umfangreiches Projekt, an dem sechs Ministerien beteiligt sind. Das wird eine große Reform werden, mit der wir Familienleistungen zusammenführen und verbessern. Wir wollen die Familienförderung auf eine neue Basis stellen – und Kinder in jeder Familienkonstellation besser absichern. Viele Eltern sind nicht verheiratet, aber nach wie vor wird vor allem die Ehe steuerlich begünstigt. Moderne Familienpolitik sollte aus meiner Sicht das Wohl der Kinder ins Zentrum stellen, unabhängig davon, in welcher Konstellation sie aufwachsen. Deshalb ist die Kindergrundsicherung für eine familienfreundliche Gesellschaft so wichtig.

Einige Vorarbeiten hat Anne Spiegel geleistet. Was hat sie Ihnen mit auf den Weg gegeben?

Anne Spiegel hat in den ersten Monaten viele Projekte auf den Weg gebracht, die bleiben werden. Die Übergabe findet gerade mit dem Haus statt.

Und Spiegel selbst? Ist sie einfach verschwunden?

Nein, natürlich sind wir in Kontakt. Die konkrete Übergabe findet nun mit dem Team statt. Ich bin dabei, mich einzuarbeiten.

Zeigt der Rücktritt Ihrer Vorgängerin auch die Grenzen der Vereinbarkeit von Familie und Beruf?

Das ist ein wichtiges Thema, aber bei Anne Spiegel war die Sache komplex. Ich habe hohen Respekt davor, dass sie ihren Rücktritt erklärt hat, um Schaden von dem Amt abzuwenden.

Sie haben einen 13-jährigen Sohn, den Sie seit dem Tod Ihres Mannes allein erziehen. Wie gelingt Ihnen das?

Ich bin da glücklicherweise nicht alleine, sondern habe seit Jahren ein Netzwerk aus Familie, Freunden und professionellen Diensten, das mich unterstützt. Ich habe das für meinen Sohn gut und sicher aufgestellt.

Robert Habeck hat für einen ehrlicheren Umgang mit der Doppelbelastung von Familie und Beruf geworben: Man solle aussprechen, dass der „Absolutheitsanspruch der dauernden Vereinbarkeit“ nicht erfüllbar sei. Geben Sie dem Wirtschaftsminister recht?

Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist in Deutschland nach wie vor ein riesengroßes Thema. Andere Länder und Gesellschaften zeigen, dass es auch anders geht. Ich bin großer Fan der Serie „Borgen“. Das ist zwar Fiktion, spiegelt aber die Lebensrealität in Dänemark gut wider, wo es auch als Ministerpräsidentin möglich ist, mit entsprechender Unterstützung im Normalbetrieb einen Nine-to-five-Job zu haben. Da ist in Deutschland noch einiges zu tun, gerade bei Frauen in Führungspositionen. Aber es betrifft natürlich auch viele andere Menschen, die beispielsweise im Schichtdienst arbeiten. Ich möchte meinen Beitrag als Ministerin leisten, dass wir da merkliche Fortschritte machen.

Was erwarten Sie von den Arbeitgebern?

Wir brauchen familienfreundlichere Arbeitszeiten. Eine Reduzierung der Wochenarbeitszeit wäre hilfreich. Vornehmlich haben das aber die Tarifpartner miteinander zu klären. Und es braucht ein Recht auf Homeoffice und mehr Mitspracherechte der Mitarbeitenden.

Welchen Beitrag leistet der Staat?  

Entscheidend ist, die Ganztagsbetreuung weiter auszubauen. Nur wenn Eltern den Rücken frei haben und ihre Kinder gut versorgt wissen, können sie gut arbeiten.

Sind Kitas und Schulen vorbereitet auf die vielen Kinder, die aus der Ukraine zu uns flüchten?

Ich freue mich sehr über das große Engagement auf allen Ebenen. Die Ministerpräsidentinnen und -präsidenten haben sich mit der Bundesregierung auf ein Finanzpaket geeinigt, das zunächst mal zusätzliches Geld für Kitas und Schulen bringt. Denn: Natürlich ist es eine zentrale Aufgabe, die Integration der Kinder und Jugendlichen gut hinzubekommen. Wir müssen im Blick haben, wie viele Kinder zu uns kommen, wie lange sie bleiben wollen – und entsprechend reagieren. All das hängt vom weiteren Verlauf dieses schrecklichen Krieges ab und lässt sich nicht vorhersagen. In jedem Fall ist es eine Aufgabe für uns alle.

Woher kommen die Lehrerinnen und Erzieher, die zusätzlich gebraucht werden?

Es gibt da keine Denkverbote. Viele Ukrainerinnen, die kommen, sind bestens qualifiziert. Eine Hürde ist aber die Anerkennung der qualifizierenden Abschlüsse. Das werde ich kurzfristig mit meinen Kolleginnen und Kollegen im Bund und auf der Länderebene besprechen. Ich finde: Da muss deutlich mehr gehen.

Es gibt ukrainische Lehrerinnen, die Online-Unterricht für geflüchtete Kinder anbieten – nach ukrainischem Lehrplan. Wie finden Sie das?

Alle Angebote sind hilfreich – je mehr, desto besser. Online-Angebote auf Ukrainisch sollten den regulären Unterricht natürlich nicht ersetzen. Ansonsten bin ich aber pragmatisch. Wir müssen alles tun, damit die Integration gelingt. Die geflüchteten Kinder sollen wissen, dass sie hier willkommen sind. Kontakt zu Gleichaltrigen ist da enorm wichtig.

Wie helfen Sie den Geflüchteten – als Familienministerin und privat?

Als Ministerin werde ich mich für das gute Ankommen von Waisenkindern einsetzen. Als Ministerium haben wir zudem einen besonderen Blick auf Holocaust-Opfer. Und mir ist es ein wichtiges Anliegen, dass die Geflüchteten nicht Opfer von Menschenhandel werden. Da hat es einzelne Fälle gegeben, über die ich auch künftig im engen Austausch mit den Sicherheitsbehörden sein werde. Der Staat muss entschieden eingreifen, wenn Menschenhändler die Not von Geflüchteten aus ausnutzen.

Und privat?

Ich unterstütze verschiedene Aktionen. In meinem Freundeskreis gibt es Menschen, die sich um Gehörlose kümmern. Eine andere gute Bekannte hat Busse organisiert, die in die Ukraine gefahren sind, um Leute rauszuholen. Da konnte ich hilfreich sein – und bin unendlich dankbar, dass so viele Menschen deutschlandweit an einem Strang ziehen.

Sie haben einen 13-jährigen Sohn. Wie erklärt man Kindern diesen Krieg?

Wichtig ist: reden, reden, reden. Ich versuche, zuzuhören, die Ängste wahrzunehmen – und die Fragen, die kommen, bestmöglich zu beantworten. Darüber hinaus gibt es gute, kindergerechte Medienangebote oder etwa die ‚Nummer gegen Kummer’ für Kinder, Jugendliche – und übrigens auch Erwachsene.

Frau Paus, in der Linkspartei sind Fälle sexueller Übergriffe bekannt geworden. Wie ordnen Sie das als Frauenministerin ein?

Die Vorwürfe, die bei der Linken erhoben werden, sind erschreckend. Und ja: Dass es zu Sexismus und Machtmissbrauch kommt, haben Abgeordnete und Mitarbeiterinnen verschiedener Fraktionen im Bundestag immer wieder thematisiert. Das geht quer durch alle Parteien.

Wie erklären Sie sich das?

Sexismus ist ein strukturelles Problem – und das schließt den politischen Betrieb mit ein. Es ist wichtig, dass wir darüber offen sprechen. Es muss außerdem eine klare Ächtung der Täter geben. Und wir brauchen entsprechende Präventionsstrukturen.

Woran denken Sie?

Als ich bei den Grünen eingetreten bin, hat es einen Fall in meinem Landesverband gegeben. Daraufhin haben wir eine Ombudsstelle und inzwischen weitere Strukturen etabliert. Das war damals ein Donnerhall, danach hat sich wirklich was geändert. Es muss unabhängige Anlaufstellen für Menschen geben, die solche Erfahrungen gemacht haben. Und: Wer Macht auf diese Weise missbraucht und sexuelle Gewalt ausübt, ist meiner Einschätzung nach nicht geeignet, weiter politisch Verantwortung zu tragen.